Von Frédéric Schwilden
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Stand:08.03.2023| Lesedauer: 6 Minuten
Quelle: Frédéric Schwilden
Scheiße, ist das schön hier. Die Berghänge der Täler werden langsam grün. Der Main fließt vorbei, und darauf schwimmen die Enten. Der Himmel ist blau und manchmal fliegt ein Vogel über das churfränkische Fachwerk der Häuser in Miltenberg, einer Kleinstadt in Unterfranken, dieser Region, wo menschhohe Frankenweinflaschen am Wegrand stehen. Die Straße geht über eine Kurve nach oben auf die Mainbrücke. Jetzt um die Mittagszeit sind die Straßen voll von Jugendlichen, die aus der Schule kommen.
Und dann geht es durch ein Tor hindurch, und dann ist da gleich das Landratsamt. Und wenn man mit dem Landrat spricht, dann vergisst man das alles ganz schnell. Denn dann ist man in einer anderen Realität.
Quelle: Frédéric Schwilden
Jens Marco Scherf also, 48 Jahre alt. Mitglied der Grünen. Wobei er ganz früher Mal in der Jungen Union war. Er hatte seine Eltern immer in politischen Dingen belehrt. Und als es denen zu bunt wurde, haben sie gesagt, er solle mal zur Jungen Union gehen. Später trat er wieder aus. Nach einem Jahr Lehramtsstudium wurde er Mitglied der Grünen. Bis heute ordnet er sich dem liberalen Flügel zu. "Es geht mir um Verantwortung und Freiheit", sagt er.
Das Studium schloss Scherf ab. Er arbeitete sich bis zum Schuldirektor hoch. Die einen kommen vom Völkerrecht, Scherf vom Boden der Tatsachen.
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Seit 2014 ist er nun Landrat des Landkreises Miltenberg. Scherf ist kein verschlafener Typ, der von Leberwurst- zu Bratwurst-Empfang von Kreissparkasse zu Kreissparkasse tänzelt, um dann gegen 14 Uhr die erste Halbe oder das zweite Viertele zu trinken. Jens Marco Scherf ist hellwach, ein Schnell-, ein Viel-Denker. Muss er auch sein.
"Der Druck vor Ort wird immer größer", sagt er. "Jede Woche kommen 30 Geflüchtete neu in unserem Landkreis an." Das ist die Realität bei ihm. Er meint: "Einen Ort finden wir zur Not noch. Aber damit ist es nicht getan. Wir werden sie nicht mehr versorgen, betreuen und integrieren können. Ob das in zwei Wochen oder in zwei Monaten sein wird, kann ich nicht sagen. Aber es wird passieren."
Kurz nach seinem Antritt als Landrat begann die erste Flüchtlingskrise durch den Bürgerkrieg in Syrien. Die Hilfsbereitschaft war groß. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte: "Wir schaffen das." Horst Seehofer (CSU), damals Innenminister, forderte eine Obergrenze für die Flüchtlinge. Prominente AfD-Politikerinnen dachten laut darüber nach, auf diese schießen zu lassen.
Landrat Scherf sagt heute: "Wir haben das mit der Feuerwehr, dem BRK, dem THW (Bayerisches Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk, d. Red.), Caritas und der Zivilgesellschaft zusammen gewuppt." Jetzt sei die Situation aber anders: "Wir haben drei Jahre Krise mit Pandemie, eine fragliche Erdgas-Versorgungslage mit möglichen Blackouts. Und dazu kommt, dass die jetzige Situation bundespolitisch und gesellschaftlich noch gar nicht diskutiert wird." Anders als in der ersten Flüchtlingskrise, findet Scherf.
Quelle: Frédéric Schwilden
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Schon im November 2022 hat Scherf zusammen mit den Landräten Bayerns den Brüsseler Appell unterzeichnet. Im Schreiben heißt es: "Wir sehen dem Winter mit Blick auf die rasant steigenden Flüchtlingszahlen mit großer Skepsis entgegen. Tragfähige Lösungen fordern auch die Europäische Union." Aus Brüssel kam keine Antwort.
Im Januar schreibt Landrat Scherf direkt an Olaf Scholz (SPD).
Wenn die Welt brennt, riecht man das Feuer im eigenen Haus nicht mehr - oder man will es gar nicht riechen. Anders ist es nicht zu erklären, warum niemand auf die Hilferufe von Scherf und den Landräten reagiert.
"Bund und Länder tun momentan nichts, was bei uns ankommt", sagt er. Auch an die eigene Bundesparteispitze hat sich Scherf gewendet und bekam auch von ihr keine Antwort.
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Im Februar saß Jens Marco Scherf dann bei Markus Lanz. Serap Güler von der CDU war auch da, Schriftstellerin Juli Zeh und Zeit-Journalist Martin Machowecz. Zum ersten Mal wurde er gehört. Die Situation in Landkreisen in ganz Deutschland wurde zum Thema. Die Frage ist, was davon bleibt. Denn die nächste Friedens-Gegendemo, der nächste Hundekot-Angriff eines Tanztheatermachers und die nächsten irren, die mit Klebstoff und Öl die Menschen dieses Landes zu Tode nerven, werden kommen, und die Aufmerksamkeit an sich reißen.
Immerhin: Seit einiger Zeit ist Scherf nun mit dem Grünen-Vorsitzenden Omid Nouripour im Austausch. Am Abend wollen sie wieder telefonieren, erzählt er.
Reden ist natürlich gut, aber wegreden kann man Probleme nicht. Scherf sagt: "Die Einschnitte für Bevölkerung und Geflohene sind noch vertretbar. Aber nicht mehr lange. Wir haben eine angespannte ärztliche Versorgungslage. Die Kindergartenplätze sind knapp. Die Schulen sind extrem belastet. Und für die Unterbringung möchte ich keine Turn- oder Gemeindehallen schließen. Das ist für mich ein absolutes Tabu. Kinder, Jugendliche und die Vereine haben die letzten Jahre genug gelitten. Lieber miete ich ein Schiff an oder nehme leer stehende Gewerbeimmobilien."
Scherf fordert: "Die Asylverfahren müssen extrem beschleunigt werden. In den Niederlanden dauert das vier bis sechs Wochen. Bei uns bis zu zwölf Monate." Seine Idee für die Verteilung der Menschen: "Im Idealfall kommen die Menschen erst in unsere kommunale Verantwortung, wenn der Aufenthaltsstatus geklärt ist. Dann brauchen wir auch keine Flüchtlingsunterkünfte, sondern können gleich mit der Integration loslegen."
Weil Scherf Probleme direkt anspricht, nicht beschönigt, wird er von Träumern wie aus der Jugendorganisation seiner Partei als "rechts" bezeichnet oder als populistisch. Scherf versteht das nicht. "Durch so etwas machen wir erneut den Fehler, nicht zu diskutieren." Er denkt laut über die "Psyche" der Grünen nach. "Aber wir müssen uns mit den Bedingungen gelingender Migration auseinandersetzen", sagt er und kommt dann von den Grünen auf die gesamte Gesellschaft: "Wir müssen Fehlentwicklungen klar ansprechen. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass die Bevölkerung nicht mehr mitgeht."
Kommentar von Frédéric Schwilden
Politikverdrossenheit
Ich habe die Politik geliebt - aber jetzt kann ich nicht mehr
Genau das ist in Upahl in Brandenburg passiert oder gerade in Lörrach. Und darüber freuen sich nur Rechtsextremisten. Die keine Migration, aber auch sonst nichts fordern.
Scherf nennt Migration in seinem Landkreis "eine Erfolgsgeschichte". Und sagt: "Wir haben als Industrielandkreis seit Jahrzehnten Menschen türkischer, portugiesischer, italienischer, griechischer und sonstiger Abstammungen." Er spricht von der Notwendigkeit von Migration, auch um den Fachkräftemangel in Deutschland zu kompensieren.
Aber er verklärt eben nichts. Das ist selten dieser Tage. In allen Bereichen der Politik.